Eigentlich hatten wir in der Vorbereitungszeit geplant, in der Grenzstadt Van zu drehen. Van ist nämlich die Stadt, in der die meisten Flüchtlinge aus dem Iran erstmal landen. Als meine Eltern und ich 1983 aus dem Iran geflohen sind, waren wir auch einen Monat lang in Van. Seit einigen Jahren gibt es dort - neben Ankara und Istanbul - auch ein eigenes UNO Büro.

Nachdem wir mehrmals mit der Produktion in Van waren und sogar schon mehrere Drehorte fixiert hatten, beschlossen wir - aus Sicherheitsgründen – außer einer 2nd Unit Szene, doch nicht dort zu drehen. Ich traf in Van einige iranische Flüchtlinge, die mir erzählten, dass sie sich nicht trauten, in die Stadt zu gehen, da es dort immer wieder Bombenwarnungen und Anschläge gibt. Auch ist der iranische Geheimdienst in Van sehr präsent und auf der Suche nach flüchtigen Gegnern.

Das waren die wichtigsten Gründe, die uns dazu bewogen haben, nicht in Van, sondern in Erzurum zu drehen, einer Studentenstadt in 1700 m Seehöhe, die auch als Skigebiet bekannt ist und eine ähnlich gebirgige Umgebung aufweist wie Van. Schließlich sollte niemand gefährdet werden und nachdem unter den Schauspielern auch mehrere sind, die selbst vor dem iranischen Regime geflohen und verfolgt worden sind, war dieses Vorgehen sicher richtig.
Ich glaube, meine Eltern waren diejenigen, die über diese Entscheidung am glücklichsten waren, denn jedes Mal wenn ich nach Van fuhr, hatten sie Angst, es könnte mir was Schreckliches passieren.

In Ankara waren das Team und die Schauspieler in 2 unterschiedlichen Hotels untergebracht. Ich war auf Vorschlag der Produktion nicht im Schauspielerhotel, sondern im Teamhotel untergebracht, um nach den Drehtagen nicht sofort wieder beschlagnahmt zu werden und auch etwas Ruhe zu haben. In Erzurum waren wir aber alle im selben Hotel, was gewisse Vor- und Nachteile mit sich brachte. Der Vorteil war, dass man in den Gemeinschaftsräumen mehr sozialen Kontakt hatte und Proben auch viel leichter zu koordinieren waren. Der große Nachteil war, dass ich zum Psychotherapeuten aller Schauspieler, Eltern und Kinderbetreuer wurde. Eine prinzipiell ja nicht uninteressante Aufgabe! Ehrlich! Hätte ich daneben nicht auch noch einen Film drehen müssen, wäre das überhaupt kein Problem gewesen. Aber so war das doch eine extrem belastende Aufgabe, denn die Probleme, die sich in Ankara zwischen den einzelnen Schauspielern, den Eltern und Kinderbetreuern und der Produktion angebahnt hatten, eskalierten in Erzurum immer mehr.

Wenn ich nach den extrem harten Drehbedingungen (immer Außendrehs, bei Minusgraden, Schnee –und Windstürmen) abends um 20 Uhr ins Hotel kam, erwarteten mich schon einige sehnsüchtig bei der Eingangstür und berichteten mir von ihrem täglichen Leid! Etwa eine Stunde später schaffte ich es dann in mein Zimmer zu gelangen. Nach einer kurzen Dusche ging ich hinunter zum Essen, wo schon die nächsten darauf warteten, mir Herz und Schmerz auszuschütten. Bepackt mit einem schweren Rucksack voller kollektiver Sorgen und persönlicher Probleme aller Beteiligten miteinander und gegeneinander, ging ich dann mit einigen von ihnen für den nächsten Tag proben, damit es beim Dreh zumindest keine Diskussionen gab. Vielleicht ging sich danach noch ein Tischtennisspiel oder eine Partie Backgammon zur Entspannung aus, meistens aber war ich froh, zumindest beim Schlafen alleine zu sein!

Die große Kunst bei den Therapiestunden war, für niemanden Partei zu ergreifen und zu vermitteln und, soweit es ging, die Situation zu entschärfen, was natürlich nicht immer möglich war. Denn: Was für ein Kraut ist dagegen gewachsen, dass sich plötzlich Filmliebespaare nicht mehr ausstehen können und Eltern sich gegen ihre Kinderbetreuer verbünden wollen usw? Zumal verhielten sich alle zu mir ganz anders (netter!), als etwa zur Produktion und ich hörte an einem Tag verschiedene Varianten und Versionen desselben Problems in unterschiedlichen Härtestufen, je nachdem, wem was erzählt wurde. Das machte natürlich eine objektive Meinungsbildung über die Probleme noch schwieriger.

Am ersten Drehtag bekamen wir gleich die Unvorhersehbarkeit des Wetters von Erzurum zu spüren. Ärgster Schneesturm in der Früh, 2 Stunden später blauer Himmel und Sonnenschein, 2 Stunden später düsterer Wolken verhangener Himmel. Dieses verrückte Wetter sollte uns die ganzen 2 Wochen begleiten und regelmäßig wegen den Wetteranschlüssen zur Verzweiflung bringen.

Wir hatten als Hintergrund für die erste Szene, die wir drehen wollten, eine Mülldeponie ausgesucht. Als wir nun am Drehort ankamen, war aufgrund des Schneefalls, von der Mülldeponie weit und breit nichts mehr zu sehen. Wir drehten also zuerst die Innenszenen in einem Autobus und hofften, dass sich die Situation bis zum Nachmittag verbessern würde. Es hellte dann schließlich zwar etwas auf, aber es war zu kalt, um den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Aber der Schneefall und das weiße Nichts um uns hatte durchaus auch einen ästhetischen Reiz und so war ich am Ende des Tages auch recht zufrieden mit dem Dreh.

Am nächsten Tag drehten wir eine Szene, in der sich die Großeltern von den Kindern verabschieden. Dabei kam es zu einem erneuten überraschenden Konflikt, denn plötzlich begannen die Darsteller der Großeltern mit einem Streit, quasi vor laufender Kamera! Die Großmutter warf dem Großvater vor, sich in den Vordergrund spielen zu wollen, obwohl er in der Szene nicht so wichtig ist wie sie! Der Großvater, ein in der Türkei lebender, bekannter Serienstar afghanischer Abstammung, bestritt das natürlich.

Eigentlich begann der Streit damit, dass die Großmutter das Kind alleine hochheben und umarmen wollte. Der Großvater argumentierte, dass er als „Gentleman“ ihr helfen müsste und das Kind hochheben sollte, um es ihr dann zu überreichen. Sie war strickt dagegen. Schließlich machte ich ihnen den Vorschlag, dass jeder ein Arm des Kindes hochzieht, da sie ja beide emotional mit dem Kind verbunden waren und dieses Gefühl ja auch teilen müssten. Sie waren einverstanden, aber der Streit hatte natürlich seine Spuren hinterlassen. Der Darstellerin der Großmutter war es aufgrund dessen nicht mehr möglich, aus sich heraus zu weinen und sie musste es mit künstlicher Tränenflüssigkeit tun, worüber sie natürlich sehr unglücklich war.  

Ich war sehr überrascht über diesen Streit, denn beide Darsteller waren bis dahin als sehr höfliche, gebildete Menschen aufgefallen. Er war ein sympathischer, warmherziger Mann, der mir beim Casting erzählt hatte, dass er sich und seine eigene Vergangenheit in dem Film wieder findet und es ihm genügt, wenn er auch nur in einem Frame des Filmes kurz zu sehen ist.

Die Darstellerin der Großmutter war ebenfalls eine warme, gebildete und sehr emanzipierte Frau, die auch selbst diverse geisteswissenschaftliche Texte verfasst hatte. Sie erklärte mir den Hintergrund des am nächsten Tag schon sehr verbal eskalierten Streits damit, dass der Darsteller des Großvaters für sie eine klassische Sorte des orientalischen Mannes darstellt, mit der sie überhaupt nicht kann! Sie meinte, sie werde vielleicht später im Weblog einen Text dazu schreiben... Susan schreibe! Bitte!

Am nächsten Tag hatten wir den ersten Drehtag mit Pferden. Es war ein extrem windiger, eiskalter Tag und wir hatten die Pferde auf eine komplett verschneite Bergebene in 2100 Meter Höhe gebracht. Zuerst drehten wir eine Szene, in der der kurdische Schlepper mit seinem Sohn durch die Landschaft reitet. Plötzlich zeigte der Junge Angst vor dem Pferd, obwohl das Pferd eigentlich sehr klein war. Nach gutem Zureden seiner Mutter und einigen Streicheleinheiten des Pferdes war er doch noch willig, mit zu reiten. Nachdem wir die Szene einmal gedreht hatten und das Pferd von den Pferdebetreuern wieder in die Ausgangsposition gebracht werden sollte, wurde das Kind unruhig und fiel dadurch mit dem Schauspieler, der seinen Vater spielte, vom Pferd in den Schnee. Es passierte zum Glück nichts, da überall eine tiefe Schneedecke lag und das Pferd auch sehr klein war, aber der kleine Junge begann zu weinen und wollte nicht mehr auf das Pferd steigen. Für diesen Fall hatten wir ein Doublekind, das wir statt ihm auf das Pferd setzen wollten. Als der Junge das sah, hörte er sofort mit dem Weinen auf und bestand darauf, wieder selbst auf das Pferd zu steigen. Wir hatten natürlich nichts gegen die professionelle Berufsauffassung des kleinen Jungen einzuwenden!

Schließlich kamen die anderen 7 Darsteller für ihre erste Pferdeszene und wir erlebten die nächste Überraschung. Die Doublekinder hatten Angst vor den Pferden und unsere Schauspielkinder nicht, denn ich hatte die Eltern gebeten, vor den Dreharbeiten mit den Kindern in Paris einige Male zu Ponyreitplätzen zu gehen, damit die Kinder ihre Angst verlieren. Scheinbar hatte das auch geholfen.

Es sollte immer ein Erwachsener auf dem Pferd sitzen und ein Kind vor sich halten. Navid Akhavan hatte an diesem Tag hohes Fieber und schon vor dem Aufsteigen auf das Pferd sagte er, dass er sich schwach fühle. Er stieg auf das Pferd und nahm Arman auf den Schoß. Doch eigentlich war er ja nicht unser Sorgenkind, sondern sein Filmpartner Pourya, der die kleine Elika auf den Schoß nehmen sollte. Dieser gestand uns nämlich in diesem Augenblick, dass er eigentlich eine extreme Tierangst hat! Er stieg zwar auf das Pferd, aber die Angst war ihm permanent auf die Stirn geschrieben. Als wir dann die Einstellung einmal gedreht hatten, rutschten Navid und der kleine Arman plötzlich vom Pferd und fielen hinunter. Schockiert versammelten sich alle um den weinenden Arman und den vor Schmerzen schreienden Navid. Arman hatte nur einen Schreck davon getragen, denn Navid hatte ihn wie geplant schützend umarmt. Doch Navid war mit dem Rücken auf einen faustgroßen Stein gefallen und konnte sich fast nicht bewegen.

Mehrer Männer trugen ihn zu einem Auto und er wurde sofort ins Krankenhaus gefahren. Kaum war er weg, kam die nächste Überraschung. Der starke Sturm wehte die Filmmütze vom kleinen Kian weg und von dieser Mütze gab es nur ein Exemplar. Monika Buttinger, unsere Kostümbildnerin, rannte der Mütze nach, und nach etwa 20 Minuten Laufen im Meter tiefen Schnee schaffte sie es, die Mütze einzufangen! Danach war sie so erschöpft, dass sie keinen Schritt mehr gehen konnte und auf Händen zurück getragen wurde. Das hatte sie sich nach dieser heroischen Leistung allerdings auch wirklich verdient!

Nach dieser Schreckensstunde drehten wir den Rest der Szene fertig, doch wir hatten sehr viel Zeit verloren und konnten nicht mehr alle geplanten Einstellungen mit dem extra aus Istanbul angereisten Kamerakran drehen. Glücklicherweise ergab die Untersuchung von Navid, dass er nur eine starke Prellung hatte und sich 2 Tage schonen musste. Wir veränderten daraufhin den Drehplan und drehten in den folgenden Tagen entweder mit einem Double für ihn oder Szenen, in denen er nicht vorkam.

Am nächsten Tag drehten wir die Schlussszene von Behi (LALE), eine der wichtigsten Momente des Filmes für mich. Behi war so aufgeregt, dass man laut Mohsan Nasiri, unserem Tonmeister, ihr Herz klopfen hören konnte! Schließlich spielte sie großartig und wir hatten alle Tränen in den Augen. Es war einer der vielleicht 3 schönsten Momente der Dreharbeiten für mich, denn das Beste, was beim Drehen passieren kann, ist meiner Meinung nach, wenn die Emotionen der Schauspieler so echt werden, dass man als Zuschauer am Set die ganze Technik und alle Menschen, die herumstehen, vergisst und das Gefühl hat, Zeuge einer anderen Form dokumentarischer Realität zu werden.

Trotz der großen Schwierigkeiten in der ersten Woche in Erzurum, bin ich doch sehr zufrieden mit den gedrehten Szenen.


Die letzte Drehwoche in der Türkei ist angebrochen. Alle Beteiligten sind schon recht angeschlagen und müde und freuen sich auf Wien, wo wir ab Mitte April 2 Wochen im Studio drehen werden.

Die Konflikte zwischen einigen Schauspielern halten leider noch an und scheinen relativ unlösbar! Denn wenn der Eine den Anderen prinzipiell nicht ausstehen kann, gibt es kein gutes Zureden und kein „geht schon, ist ja alles halb so schlimm“. Ich versuche für alle Parteien da zu sein und mir alles anzuhören.

Es gibt Schauspieler, die extrem viel Aufmerksamkeit brauchen, auch wenn sie in einer Szene nur im Hintergrund agieren müssen und für die Kamera fast nicht sichtbar sind! Das ist ziemlich anstrengend, denn ich muss mich natürlich um viele andere, für die Szene wichtigere Dinge, kümmern. Manchmal höre ich auch von zwei Schauspielern, die miteinander spielen, exakt dasselbe über den anderen Schauspieler! Schauspieler A sagt z.B. in Abwesenheit von Schauspieler B, dass Schauspieler B nicht improvisieren kann. Am Abend sagt dann  Schauspieler B in Abwesenheit von Schauspieler A, dass Schauspieler A überhaupt nicht improvisieren kann!

Für manche Schauspieler stellt sich die Arbeit mit den Filmkindern immer wieder als Nerven aufreibend dar, da sie sich in einer Szene nicht nur auf ihr eigenes Spiel konzentrieren müssen, sondern auch darauf, dass die Kinder ruhig halten und auch ihren Teil in der Szene erfüllen. Mit Behi habe ich ausgemacht, dass ich in Szenen, in denen sie mit den Kindern spielt, zuerst die Close Ups von ihr drehe, damit sie ihre Konzentration nicht verliert. Erst danach drehe ich dann die Close Ups auf die Kinder, die man sehr oft mehrmals wiederholen muss, bis alles richtig natürlich rüber kommt.

Die Proben, die ich seit der Ankunft in Erzurum jeden Abend mache, haben sich als sehr hilfreich erwiesen. Auch wenn ich eine Szene nur 15 Minuten probe und ein bis zwei Mal mit den Schauspielern am Hotelgang durchspiele, erspart das am nächsten Tag sehr viel Zeit. Das, was zu meiner Überraschung extrem viel Zeit kostet, ist oft die Choreographie der Bewegungen der Menschen in einer Szene. Dinge, an die man beim Drehbuch Schreiben ja nur ganz wenig denkt.

Welcher Darsteller sagt wann was, was machen die anderen, während der eine seinen Satz sagt, bzw. wann bewegt sich wer wohin, wann geht ein Komparse durch das Bild, ohne dass er die Hauptaktion verdeckt, wann bewegt sich die Kamera wohin und wie müssen sich die Schauspieler bei der Kamerabewegung bewegen, um den Blick auf etwas anderes oder einen anderen Schauspieler frei zu geben. Diese Choreographie kostet uns jeden Tag einige Stunden Zeit und daher versuche ich durch die Proben, diese Zeit etwas zu reduzieren.

Was für manche Theater und Laien-Schauspieler sehr schwer zu bewerkstelligen ist, ist die Tatsache, dass sie bei den unterschiedlichen Einstellungsgrößen einer Szene immer dieselben Bewegungen machen müssen (Continuity). Man kann das Material im Schnitt nur dann gut kombinieren, wenn z.B. die Handbewegungen eines Schauspielers in der Nahaufnahme eines Dialoges mit den Handbewegungen bei derselben Dialogstelle in einer Totalen exakt übereinstimmen. Für Theaterschauspieler bedeutet dies oft eine ganz gegenteilige Methode, als das, woran sie gewohnt sind. Ein Theaterschauspieler muss sich für jede Aufführung desselben Stücks Techniken aneignen, wie er bei jeder Aufführung neue Kraft schöpfen kann und mit kleinen Veränderungen immer wieder in den Zustand kommt, dass er nicht das Gefühl hat, sich jeden Tag zu wiederholen und immer mechanischer zu werden. Beim Film muss er es schaffen, in den unterschiedlichen Einstellungen ein und derselben Szene, sowohl emotional, als auch physisch, exakt dasselbe zu machen. Zum Glück haben wir ja Susi Nowotny, die ein strenges Auge auf Script und Continuity wirft und (fast) keine Abweichungen durchgehen lässt.

Erstaunlicherweise sind die Kinder von den Proben ganz begeistert. Sie entwickeln einen ganz neuen Ehrgeiz und wollen manchmal gar nicht aufhören mit den Proben. An einem Abend wollte der kleine Arman eine Szene 10 Mal proben. Sie sehen es scheinbar als ein Spiel und versuchen, es besser als der andere zu machen. Wenn wir dann am nächsten Tag die Szene drehen wollen, freuen sie sich regelrecht darauf, denn dann können sie zeigen, wie gut sie geprobt haben und sind auch stolz darauf, dass sie die Geschichte schon kennen. Ich glaube, irgendwie ist das wie Märchen erzählen! Kinder wollen ja oft dieselben Geschichten, die sie schon tausendmal gehört haben, immer und immer wieder hören und die Geschichten auch selbst immer und immer wieder erzählen.

Meine anfängliche Angst, durch zuviel Proben die Spontaneität der Kinder zu verlieren, hat sich gelegt. Man darf natürlich nicht übertreiben mit den Proben (10 Mal!) aber 3-4 Mal eine Szene durchmachen, bringt extrem viel. Für die Dreharbeiten in Wien habe ich mit Olaf Benold, dem Regieassistenten, und Michael Katz, dem Herstellungsleiter, bereits ausgemacht, dass sie die Schauspieler fix für die Proben des nächsten Tages buchen sollen. In Wien haben wir auch noch den Vorteil, dass wir im Studio drehen und gleich in den richtigen Räumlichkeiten die Choreographie der Bewegungen proben können.

Einige der schwierigsten Drehtage waren die Drehtage in den türkischen Dörfern, in denen wir stellvertretend für die kurdischen Dörfer gedreht haben. Wir hatten eine relativ große Anzahl von Komparsen zu koordinieren, was sich ja im Zuge dieser Dreharbeiten schon bisher auf Grund der Sprachunterschiede immer wieder als schwierig erwiesen hatte. Diesmal kam noch  dazu, dass wir auch noch 6 Schafe und eine schlecht gelaunte Kuh, sowie noch unkontrollierbarere Dinge wie Rauchschwaden und schreiende Babys in den Griff bekommen mussten. Der Mann der Stunde war Hansi („mein Hansi“) Wagner, unser Innenrequisiteur, der sich in Schutt, Asche und Kuhmist hineinwarf, um diesmal die „Außenrequisiten“ (schlecht gelaunte Kuh und sogar Rauchschwaden) in die richtigen Bahnen zu lenken.

Doch an diesem Tag sahen wir auch Hansis anderes Gesicht: Hansi Wagner ist nicht nur ein genialer Innenrequisiteur (siehe Caché) und kann super tanzen, er kann auch richtig böse werden und schreien! Aber er wäre nicht Hansi Wagner, wenn er nicht auch im Augenblick höchster Erzürnung immer noch ein kleines Lächeln im Gesicht hätte. Warum aber ist Hansi Wagner an diesem Tag böse geworden? Hier der exklusive Bericht eines Augenzeugen:

Hansi Wagner hat einem ortsansässigen Teenager, der sich etwas dazu verdienen wollte, eine äußerst wichtige Aufgabe übergeben. Dieser Rotzbengel sollte auf die Filmrequisiten, die wir für die Pferde gebraucht haben, aufpassen. Unter diesen Requisiten waren auch die Spieldecken, mit denen sich die Protagonisten auf den Pferden bedecken sollten. Als es dann zu der besagten Szene kam, fehlte plötzlich eine der Decken. Hansi Wagner konnte es nicht fassen, hatte er sich doch einen, seiner Meinung nach vertrauensvollen Kameraden geangelt. Doch der tat so, als wüsste er von nichts. Hansi Wagner sah bereits ein Komplott der Dorfgemeinschaft gegen sich und unseren Film. Es gab nämlich einige Wochen bevor wir in dem Dorf zu drehen begonnen hatten, in der Gegend das Gerücht, wir wären armenische Goldgräber! Denn in dieser Gegend lebten einst sehr viele Armenier, die im Zuge ihrer Vertreibung und Ermordung ihr Hab und Gut in der Gegend vergraben haben sollen. Und gelegentlich tauchten dort anscheinend Archäologen und andere Goldgräber auf der Suche nach diesen vergrabenen Resten auf.

Aber zurück zu Hansi Wagner. Dieser sah im Verschwinden seiner Spieldecke einen Racheakt der Dorfbewohner (gegen wen auch immer). Wir drehten die Szene also ohne diese Decke und am Abend, als wir in den Bus, der uns zum Hotel fahren sollte, einstiegen, lag dort sorgfältig gefaltet die grüne Spieldecke von Hansi Wagner! Und des Rätsels Lösung war auch viel banaler als wir gedacht hatten. Mit einem unschuldigen Blick erzählte der Fahrer, dass er sich die Decke geholt hatte, um es bei seinem Mittagsschläfchen kuschelig warm zu haben. Dagegen war zu diesem Zeitpunkt des Tages wohl nichts mehr zu sagen, nicht einmal vom genialen Hansi Wagner, der übrigens wieder lächelte, obwohl er böse war...

Am letzten Drehtag drehten wir auf einem hohen Berg und hatten eine wunderschöne Aussicht und zum Glück auch schönes Wetter. Es war kein besonders dichter Tag und aufgrund der Freude, die schwierigste Etappe des Drehs ohne größere Katastrophen geschafft zu haben, war die Stimmung auch sehr gut. Auch Klaus Achter war zufrieden, denn der Wind war nicht so stark und wir konnten seine Steadicam-Künste nützen.

Als das Pensum geschafft war, ließen wir die Korken einiger Champagnerflaschen, die die Schauspieler mitgebracht hatten, am Berg knallen und wurden auch etwas melancholisch - beim Teamfoto. Wieder erwies sich Hansi Wagner als Held des Tages: Er trug Behi, die sich beide Füße verletzt hatte, den ganzen Berg am Rücken hinauf und dann wieder hinunter!

Im Großen und Ganzen sind die Dreharbeiten in Erzurum sehr gut gelaufen. Abgesehen von zwei Szenen, bei denen ich gerne noch einige Einstellungen gedreht hätte, die aus Zeitgründen unter den Tisch gefallen sind, habe ich für diesen Teil des Filmes ein gutes Gefühl, was ich nach dem Dreh in Ankara so nicht sagen konnte. Ich glaube, einer der Gründe ist, dass wir in Erzurum einen in sich geschlossenen fertigen Teil gedreht haben. In Ankara hatten wir alle Szenen, die nicht in den Hotelzimmern spielen, gedreht, wodurch es viele Löcher gibt und ich kein Gefühl für das Ganze bekommen habe. Das wird hoffentlich in Wien kommen, nachdem wir die Studioszenen gedreht haben.

Einige der Schauspieler fliegen für die erste Woche nach Frankreich und kommen erst für die zweite Woche nach Wien. Als die kleine Elika gehört hat, dass sie auch eine davon ist, brach sie in Tränen aus. Sie wollte nicht nach Paris zurück, sondern bei uns bleiben und weiter drehen! Ich konnte sie schließlich damit beruhigen, dass sie ja in der zweiten Woche wieder kommen würde und viele andere Schauspieler, die sie gerne hatte, auch in der ersten Woche nicht anwesend wären.

Einerseits freue ich mich auf Wien, andererseits bin ich sehr besorgt wegen der Schauspieler, die sich nicht verstehen, denn einige der intimsten und emotionalsten Szenen des Filmes spielen im Studio und wenn die Schauspieler nicht über ihren Schatten springen und über diese persönlichen Befindlichkeiten hinwegsehen, gefährden sie ernsthaft den Film.

Wir werden ja sehen, ich werde mit ihnen noch ein ernstes Wörtchen sprechen!

Die Freude, nach Wien zu kommen, war selten so groß wie nach diesem anstrengenden Auslandsaufenthalt! Diesmal schafften es nicht einmal die mürrischen, übel gelaunten Wiener am Flughafen, meinen Gemütszustand zu verschlechtern. Nach all der Anstrengung in der Kälte und der logistischen Großtat der Produktion, einen reibungslosen Dreh in den entlegenen Gebieten der Türkei zu organisieren, empfing uns Wien mit herrlichem Frühlingswetter, gutem Kaffee und mich leider auch mit einer halbverbrannten Wohnung! Drei Tage bevor wir ankamen, es war Freitag, der 13., wollten meine Eltern und meine Schwester, meine Wohnung sauber machen, um mich zu überraschen. Im Zuge dessen gab es leider einen Kabelbrand in der Mauer und 2 Wände sind abgebrannt, da sie innen aus Holz waren. Das hieß für mich natürlich wochenlang kein Zuhause, da Strom und Gas abgedreht waren und die Wohnung in Schutt und Asche lag. Das war nach 3 Monaten in Hotelzimmern besonders hart. Glücklicherweise hatte ich in Wien aber die Möglichkeit in ein wirkliches Luxushotel zu ziehen: Hotel Mama! Nach einigen Jahren Abwesenheit bezog ich das Gästezimmer mit eigenem Fernseher und freute mich auf herrliche persische Speisen, die in den nächsten Wochen meinen Körper wieder auf Trab bringen sollten.

Wir kamen am Sonntag Nachmittag an und hatten zuerst geplant, am Dienstag zu beginnen, doch aufgrund der allgemeinen Erschöpftheit beschloss die Produktion, alles um einen Tag nach hinten zu verschieben. Ich besuchte die Studiobauten, die Christoph Kanter und seine Jungs gezaubert hatten, ich war begeistert über die Detailverliebtheit, mit der alles gemacht worden ist. Sogar die Schlüssel der Hotelzimmer waren identisch mit den Originalschlüsseln in der Türkei. Und das heruntergekommene Zimmer von Manu und Abbas sah wirklich ungemütlich und dreckig aus, aber es hatte einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Originallocation: den Geruch! Es sah alles dreckig und heruntergekommen aus, aber es roch nicht nach Exkrementen, sondern nach herrlicher Sägespäne und großartiger Innendispersion! Noch nie habe ich den Geruch von einer Innendispersionsfarbe so zu schätzen gewusst.

Am Abend vor dem ersten Drehtag begann ich, in den Studiobauten mit den Schauspielern zu proben. Das Ganze hatte einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Proben, die ich in den 6 Wochen in der Türkei gemacht hatte, wir konnten nun in der Drehlocation ganz genau das nötige Timing und die Gänge proben und so beim Dreh Zeit sparen. Das war auch dringend nötig, wenn wir mit dem Pensum durchkommen wollten, denn das Programm der 10 Drehtage war extrem dicht. Bis zu 4,5 Filmminuten waren manchmal am Plan.

Ich hoffte, dass die erleichterten Umgebungsbedingungen wie eben das Studio, das schöne Wetter und die Freizeitmöglichkeiten, die Wien im Vergleich zu Erzurum bot, die Gemüter der streitenden Schauspieler etwas beruhigen würde und glücklicherweise war es auch so. Zwar spürte man die unter der Oberfläche brodelnden inneren Konflikte, aber nach Außen hin gab es von allen Seiten die Bemühung, ihre persönlichen Befindlichkeiten hinten anzustellen, um den Film nicht zu gefährden.

Der tägliche Ablauf im Studio war folgender: Beginnzeit war immer um 7:30 herum. Dann zeigte ich dem Kameradepartment und dem Licht in einer Stellprobe, was ich am Abend zuvor mit den Schauspielern geprobt hatte und wie die Choreographie der Bewegungen im Zimmer sein würde. Dann besprach ich mit dem Kameramann die Auflösung, die ich mir am Abend zuvor ausgedacht hatte und wir adaptierten die eine oder andere Einstellung. Schließlich wurde etwa 20 Minuten eingeleuchtet, während die Schauspieler geschminkt und umgezogen wurden und frühstückten. Danach ging es an die Arbeit. In der ersten Woche waren zwei der drei Kinder, Elika und Arman nicht da, weil wir ihre Szenen auf die zweite Woche verschoben hatten. Das dritte Kind, der 6jährige Kian, war alleine immer sehr gut und konzentriert. Aber wenn die anderen dabei waren, entfachte oft ein nicht immer unschuldiger Kampf zwischen ihm und Arman um die Aufmerksamkeit der kleinen Elika. Auch wenn ich froh war, dass Kian alleine war und so besser konzentriert arbeiten konnte, vermisste ich doch auch die anderen Kinder.

Eine der Geschichten des Filmes basiert ja auf der Geschichte meiner Geschwister und meinem Cousin Mehrdad, der in Amerika lebt. Nachdem seine mündliche Erzählung die Basis dieses Filmes darstellte, fühlte ich mich verpflichtet, ihn auch irgendwie in den Film einzubauen. Ich organisierte seinen Flug und schließlich spielten er und meine Schwester zwei österreichische Polizisten. Der Drehtag war für ihn sehr emotional, da er seine eigene, traumatische Geschichte nun nach 25 Jahren für den Film adaptiert sah.

Die Dreharbeiten der ersten Woche verliefen eigentlich sehr gut, aber bis zum vorletzten Drehtag der ersten Woche lagen wir 2 Szenen zurück und wenn wir sie nicht aufholen, würden wir mit dem Drehpensum nicht auskommen. Ein zusätzlicher Drehtag wäre praktisch nicht möglich gewesen, da die Flüge aller Schauspieler bereits für den Tag nach dem letzten Dreh gebucht waren. Also musste ich mir was überlegen, um diese Szenen an den letzten 2 Drehtagen der ersten Woche einzuholen. Glücklicherweise gelang es mir schließlich auch, aber dennoch beschlossen die Produktion und ich, dass es gut wäre, wenn ich mich am Sonntag noch einmal mit meinem Dramaturgen Peter Berecz treffe und wir uns für die letzte Woche eventuelle Kürzungsmöglichkeiten überlegen, damit wir auf der sicheren Seite sind. Meine Cutterin, Karina Ressler, die parallel zu den Dreharbeiten bereits einen Rohschnitt des Filmes anfertigte und uns täglich die Szenen vom vorletzten, manchmal auch vom letzten Drehtag auf DVD schickte, kam auch zu dem Treffen. Es war sehr produktiv und wir machten noch einen Feinschliff bei den noch zu drehenden Szenen, kürzten einige Dialogpassagen und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich etwas Wichtiges verloren hatte. Das ist immer ein gutes Zeichen beim Kürzen.

In der zweiten Woche kamen die Kinder wieder und es war - trotz des Stresses, wenn sie zu dritt eine Szene hatten – großartig, mit ihnen zu drehen, da die Kinder immer echt waren. Eigentlich ist es ja für alle Schauspieler, die mit Kindern spielen, sehr schwer mitzuhalten, denn Kinder sind immer echt, immer sie selbst und wenn daneben ein Schauspieler gerade keinen guten Tag hat, merkt man sofort den Unterschied zwischen dem unschuldig echten Spiel der Kinder und dem gewollt echten Spiel des Schauspielers.

Am drittletzten Drehtag kündigte ich beim abendlichen Abschied dem kleinen Kian und Arman an, dass der nächste Drehtag der letzte für sie sein würde. Ich dachte, sie wären froh, dass die anstrengenden Dreharbeiten endlich vorbei sein würden. Doch kurz darauf rief mich die verzweifelte Mutter von Kian aus dem Bus, der sie ins Hotel fahren sollte, an und erzählte mir, dass Kian nicht zu weinen aufhört, weil er traurig ist, dass er mich nicht mehr sehen wird. Schließlich konnte ich ihn - selbst den Tränen nahe wegen der Warmherzigkeit des Kindes - am Telefon überzeugen, dass wir in Kontakt bleiben würden. Ich versprach ihm, regelmäßig anzurufen und  ihn in Frankreich zu besuchen und in Zukunft wieder mit ihm einen Film zu drehen. Außerdem vereinbarten wir, uns gegenseitig ein Foto zu geben, das wir immer mit uns tragen würden und ansehen, wenn wir den anderen vermissen sollten. Auch der kleine Arman soll im Bus geweint haben, als er gesehen hat, dass Kian solange weint. Er wollte ja prinzipiell immer alles so machen wie Kian, dieselben Geschenke bekommen und manchmal auch dieselben Szenen spielen, um zu zeigen, dass er der Chef ist. Und so blieb er bis zuletzt konsequent, auch beim Weinen!

Als dann am nächsten Tag tatsächlich die letzte Szene mit Kian abgedreht war und die gesamte Crew für ihn klatschte, war er zuerst stolz, lief aber kurze Zeit danach weg und begann in einem Eck zu weinen, weil er Angst hatte, alle zu vermissen. Ich glaube dadurch, dass die Kinder vom gesamten Team so gut behandelt wurden und soviel Aufmerksamkeit bekamen, waren die Dreharbeit für sie trotz der Anstrengung etwas sehr Schönes und haben auch zu ihrem Reifeprozess beigetragen.

Der letzte Drehtag im Studio war zwar sehr anstrengend, aber die Tatsache, dass es der letzte Tag war, entspannte die Situation sehr. Es lag auch bereits eine gewisse Melancholie in der Luft, schließlich hatten alle Beteiligten mehrere Monate miteinander verbracht und durch das Ausmaß der Dreharbeiten und des langen Auslandsdrehs war der Film auch für die sehr erfahrenen Mitarbeiter etwas Besonders.

Schließlich fiel etwa um 21.30 die letzte Klappe, wir schrieen, klatschten, riefen Drehschluss, umarmten uns gegenseitig, sogar die, die sich nicht mochten, Sektkorken knallten und ich bekam meine erste Klappe überreicht.

Schließlich eilten alle nach Hause, um sich für die Abschlussparty, die im Restaurant Canetti, über der städtischen Bücherei, stattfand, frisch zu machen. Ich holte meine Eltern und meine Geschwister ab und eilte zur finalen Feier, die bereits seit 20:30 für die anderen begonnen hatte. Mein Bruder Arman hatte ein 10minütiges Making Off geschnitten und meine Cutterin, Karina Ressler, einen ebenfalls 10minütigen Zusammenschnitt einiger Szenen, die wir zur Freude aller mit einem Beamer projizierten.

Fares Fares hatte Geburtstag und bekam einige Geburtstagsgeschenke und Torten und nachdem nach 24:00 Uhr seine dreimonatige Alkoholabstinenz endete, konnten wir auch gemeinsam auf den Film anstoßen. Schließlich bekam ich von den Schauspielern noch ein seltsames Geschenk: Ein handgemachter Messingteller mit meinem Portrait (!) darauf und rundherum die Namen aller Schauspieler. Sie hatten im Bazar von Ankara einen armen Handwerker genötigt, mein Bild in den Teller zu meißeln. Leider reichte ihre Phantasie nicht aus, ihn zu bitten, mich etwas vorteilhafter als in der Realität darzustellen, dabei wäre es ja so einfach gewesen: ein paar Meiselstiche und schon hätte ich eine Elvislocke und eine um Längen kleinere Nase gehabt... aber das ist eine andere Geschichte...

Als der Abend zu Ende war, hatte ich durchaus nicht das Gefühl, dass mich ab dem nächsten Tag die totale Leere überkommen würde, wie einige Mitarbeiter prophezeiten. Ich freute mich auf das Ausschlafen, ich freute mich auf den Schnitt und auf den wirklich letzten Drehtag, der etwa einen Monat später in Berlin stattfinden sollte...


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